In einer Kultur des Wegdrückens von Gefühlen haben viele von uns gelernt, dass Gefühle besser nicht gezeigt werden sollten. Während sich diese Sprachlosigkeit im Umgang mit Gefühlen zunehmend verliert, ist in den letzten 10 – 20 Jahren ein Trend zu beobachten, der auf andere Weise problematisch sein kann: ein zunehmender Wunsch nach durchgängig angenehmen Gefühlen.
Unsere Kultur ist vermehrt auf Optimierung und Selbstoptimierung ausgerichtet, alles soll immer besser werden. Man muss an sich arbeiten, um sein »wahres Wesen« oder sein »besseres Ich« zu verwirklichen. Diese Suche nach dem Besseren bildet sich auch im Umgang mit Gefühlen ab: Wir möchten immer mehr angenehme Gefühle haben, und zwar besonders intensive, und glauben gleichzeitig, dass wir unangenehme Gefühle ganz aus unserem Leben verbannen können.
Diesen Trend bezeichne ich als Glückskult (Knuf, 2018). Er ist vor allem in vielen westlichen Ländern anzutreffen und wird auch von soziologischer Seite beschrieben (Reckwitz, 2017). Der Glückskult schlägt sich in einer wachsenden Zahl von Ratgeberliteratur über vermeintlich »positive Gefühle« und ein perfektes Leben im »Dauerglück« nieder.
Ich will, dass es mir immer gut geht
Wenn sich die angenehmen Gefühle nicht von allein einstellen, wird immer häufiger nachgeholfen, sei es mit Psychotipps, Medikamenten oder irgendwelchen Suchtmitteln. Allein vom Jahr 2000 bis 2018 hat sich der Absatz von Antidepressiva in Deutschland fast verdreifacht, was ganz sicher nicht allein mit der Zunahme von Depressionen erklärt werden kann und vielfältige Gründe hat.
Einer davon ist, dass wir unangenehme Empfindungen immer seltener tolerieren, schnell bereit sind, sie als Teil einer Erkrankung zu verstehen, und uns Abhilfe wünschen. So benutzen Klienten von mir immer öfter den Begriff Depression und beschreiben letztlich eine traurige Stimmungslage, ein »schlechtes Wochenende« oder wenig freudvolle Gefühle in einer schwierigen und herausfordernden Lebensphase. Eine Klientin sagte mir einmal: »Wenn man unangenehme Gefühle hat, dann stimmt mit einem doch was nicht.«
Wer früher »schlecht drauf« war, gerade eine »schwierige Zeit« hatte oder in der »Midlife-Crisis« feststeckte, der gilt heute schnell als depressiv, empfindet sein Erleben als Erkrankung und lässt sich entsprechend behandeln. Als ich mich neulich in einem Erstgespräch mit einem Klienten über die Ziele der Therapie beriet, sprach ich von dem Ziel, dass er zufriedener werden könnte. Mein neuer Klient unterbrach mich und meinte: »Das wäre mir ehrlich gesagt zu wenig. Ich will, dass es mir immer gut geht.«
Uns für alle Gefühle öffnen
So droht aus einer Kultur des Wegdrückens von Gefühlen eine Glücks- sucht zu werden, bei der ja wieder Gefühle weggedrückt werden, diesmal zumindest nur die unangenehmen. Dabei wäre es viel wünschenswerter, wir würden die Fähigkeit entwickeln, uns für alle Gefühle zu öffnen, egal ob angenehm oder unangenehm.
Das Wegdrücken unangenehmer Empfindungen kann man allerdings nicht nur der Kultur der Selbstoptimierung und des »Immer besser« anlasten, sondern es ist auch Ausdruck einer biologisch-evolutionär verankerten Grundhaltung: Jedes Lebewesen versucht angenehme Empfindungen herbeizuführen und unangenehme zu vermeiden. Da eine angenehme Empfindungslage normalerweise darauf hinweist, dass unsere Bedürfnisse erfüllt sind, versuchen wir natürlicherweise häufiger, angenehme Empfindungen zu haben. Jeder möchte im Winter im Warmen sein oder genug zu essen haben, wenn er oder sie hungrig ist.
Unangenehme Empfindungen wiederum geben uns einen Hinweis, dass eine Gefahr besteht oder ein Bedürfnis unerfüllt ist. Also versuchen wir, diesen Empfindungen aus dem Weg zu gehen.
Traurigkeit ist eine angemessene Emotion
Während ich das hier schreibe, findet gerade der Eurovision Song Contest 2021 in Rotterdam statt. Deutschland landet ja gerne auf einem der letzten Plätze und so ist es auch diesmal. Jendrik Sigwart belegt mit seinem Song »I don’t feel hate« nur den vorletzten Platz. In deutschen Medien wird von einem Debakel gesprochen, das Lied von Jendrik sei zu simpel und kindisch. Während er in Interviews vor der Endausscheidung angab, dass er einen der vorderen Plätze anstrebe, sagt er nach der Niederlage »Ich bin wirklich glücklich!«.
Aber das darf natürlich bezweifelt werden, denn wenn man sich etwas erhofft und das Erwünschte nicht eintritt, ist Traurigkeit die angemessene Emotion. Da geht es auf den Fußballplätzen schon ehrlicher zu: Die Verlierer sind todtraurig, den Tränen nah oder trauen sich, diese auch zu zeigen. Die Sieger sind hingegen freudestrahlend und glückselig und lassen sich überschwänglich feiern.
Nehmen Sie sich nun etwas Zeit, um genauer zu erkunden, mit welcher Form des Umgangs mit Gefühlen Sie aufgewachsen sind. Schließen Sie hierfür kurz Ihre Augen und atmen Sie einige Atemzüge lang bewusst und möglichst gelöst ein und aus. Öffnen Sie sich innerlich für Gedan- ken, Bilder und Erinnerungen, die Ihnen aus Ihrer Kindheit zum Umgang mit Gefühlen kommen.
Bitte stellen Sie sich nun die folgenden Fragen:
• Wurde Ihnen in Ihrer Kindheit und frühen Jugend vermittelt, dass Gefühle normal sind und zum Leben dazugehören?
• Oder haben Sie eher gelernt, dass sie nicht gezeigt werden sollten?
• Sahen Sie Ihre Eltern weinen?
• Wie ging man in Ihrer Familie mit Traurigkeit, Ärger oder Freude um?
• Wie reagierten Ihre Eltern, wenn Sie als Kind Freude, Angst oder Scham empfanden?
• Wurde darüber gesprochen?
• Wurden die Empfindungen anerkannt oder in irgendeiner Form negativ bewertet?
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In einer Kultur des Wegdrückens von Gefühlen haben viele von uns gelernt, dass Gefühle besser nicht gezeigt werden sollten. Während sich diese Sprachlosigkeit im Umgang mit Gefühlen zunehmend verliert, ist in den letzten 10 – 20 Jahren ein Trend zu beobachten, der auf andere Weise problematisch sein kann: ein zunehmender Wunsch nach durchgängig angenehmen Gefühlen.
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