Foto: Rami Al-zayat/Unsplash
Wir brauchen wirklich nicht viel Aufmerksamkeit, um erkennen zu können, dass unsere Welt sich vor unserer Nase so radikal verändert, wie es das menschliche Nervensystem wohl noch nie zuvor erlebt hat. Angesichts des enormen Ausmaßes dieser Veränderungen sollten wir uns vielleicht einmal Gedanken darüber machen, welche Auswirkungen sie auf unsere Arbeit, unsere Familie und unser Leben im Ganzen haben. Es wäre wohl keine schlechte Idee, sich einmal genauer anzusehen, was die Tatsache, dass wir heute sieben Tage in der Woche jeweils vierundzwanzig Stunden vernetzt und verfügbar sind, mit unserem Leben anstellt.
Ich vermute, dass die meisten von uns kaum bemerkt haben, wie sie in diese Situation hineingeschlittert sind. Wir waren so damit beschäftigt, mit den neuen Möglichkeiten und Herausforderungen Schritt zu halten, zu lernen, die neuen Technologien zu benutzen, um mehr in kürzerer Zeit möglichst besser leisten zu können, dass wir im Verlauf dieses Prozesses völlig von diesen Technologien abhängig geworden, ja geradezu süchtig nach ihnen sind. Und ob es uns nun bewusst wird oder nicht, wir werden von diesem Sog der Zeitbeschleunigung mitgerissen, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass er sich wieder verlangsamen wird.
Die Technologie, die uns angeblich so viel effektiver machen und uns damit mehr Muse bringen sollte, droht uns sowohl unserer Effektivität als auch unserer Muse zu berauben… wenn das nicht schon längst geschehen ist. Kennen Sie etwa jemanden, der mehr Freizeit hat? Muse scheint in unserer Gesellschaft ein Fremdwort geworden zu sein… etwas, was es vor Jahrzehnten vielleicht einmal gegeben hat.
Die Verbindung zu uns selbst
Mit unseren Handys, Laptops und Smartphones sind wir heute dermaßen „vernetzt“, dass wir jederzeit mit Hinz und Kunz in Verbindung sein und an jedem Ort der Welt rund um die Uhr unsere Geschäfte abwickeln können. Aber ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass wir angesichts dieser Rundumvernetzung Gefahr laufen, den Kontakt zu uns selbst zu verlieren?
Angesichts der von allen Seiten auf uns einstürmenden Verführungen können wir leicht vergessen, dass unsere wichtigste Verbindung zu unserem Leben durch unser Inneres zustande kommt. Es ist die Erfahrung unseres eigenen Körpers und all unserer Sinne, einschließlich des Geistes, die es uns erlaubt, mit der Welt in Berührung zu sein und uns von ihr berühren zu lassen sowie angemessen auf sie zu reagieren. Und um das tun zu können, brauchen wir Momente, die nicht von irgend etwas angefüllt sind, in denen wir nicht auf dem Sprung sind, noch ein Telefonat anzunehmen oder noch eine E-Mail zu senden, in denen wir nicht noch eine weitere Aktivität planen oder unseren Terminkalender weiter anfüllen. Wir brauchen Augenblicke der Reflexion, der Besinnung, der Nachdenklichkeit.
Wo bleibt mitten in all diesem Gerede von Vernetzung die Verbindung zu uns selbst? Sind wir dermaßen intensiv mit anderen in Verbindung, dass wir niemals wirklich dort sind, wo wir uns befinden? Auch am Strand haben wir noch das Handy am Ohr – sind wir dann wirklich dort? Wir gehen die Straße entlang, wir fahren Auto und telefonieren gleichzeitig – sind wir also wirklich dort? Haben wir angesichts der Beschleunigung unseres Lebensstils und der Möglichkeiten augenblicklicher Kontaktaufnahme die Möglichkeit, in unserem eigenen Leben präsent zu sein, über Bord gehen lassen?
Mal wieder anders handeln
Wie wäre es, wenn wir in unseren „freien Momenten“ mal nicht mit irgend jemandem Kontakt aufnähmen. Wir wäre es, wenn wir statt dessen einmal mit demjenigen in Verbindung träten, der an diesem Ende des Drahtes ist? Wie wäre es, wenn wir uns mal bei uns selbst meldeten und nachsähen, was da gerade vor sich geht? Wie wäre es, wenn wir in Kontakt mit unseren Gefühlen träten, auch in solchen Momenten, wo wir uns „daneben“ fühlen, wo wir überfordert, gelangweilt, aus dem Tritt, verängstigt oder deprimiert sind … oder wo wir den Zwang verspüren, noch eine Sache zu erledigen?
Wie wäre es, wenn wir mit unserem Körper in Verbindung träten und mit den Universen von Sinneswahrnehmungen, durch die wir die äußere Landschaft empfinden und erkennen? Wie wäre es, wenn wir mal nicht nur automatisch reagierten und etwas länger als nur einen flüchtigen Moment beim Gewahrsein dessen verweilen würden, was in jedem einzelnen Moment in unserem Geist auftaucht: bei den Gefühlen, den Stimmungen, Empfindungen und Gedanken sowie bei unseren Meinungen? Wie wäre es, wenn wir nicht nur bei ihrem Inhalt verweilten, sondern auch bei den Gefühlslagen, die damit einhergehen, bei ihrer Wirklichkeit als Energien und bedeutsamen Ereignissen in unserem Leben, als große Reservoire an Informationen zur Selbsterkenntnis, als großartige Gelegenheiten zur Auslösung von Transformation, als Gelegenheiten dazu, das, was wir wissen und verstehen, auf authentische Weise zu leben?
Wie wäre es, wenn wir uns ein umfassenderes Bild von der Situation machen würden, das uns selbst auf allen möglichen Ebenen einschließt, selbst wenn dieses Bild immer im Entstehen begriffen ist, immer vorläufig bleibt, sich ständig verändert und manchmal ziemlich klar ist und manchmal nicht?
Einfach in den Zug einsteigen
Unsere neuerlangte technologische Konnektivität dient häufig keinerlei Zweck und ist bloße Gewohnheit, die manchmal ans Absurde grenzt, wie in einer Karikatur aus dem New Yorker deutlich wird:
Eine Zugstation zur Hauptverkehrszeit. Massen von Menschen ergießen sich aus den Zügen oder in die Züge. Sie alle haben ihr Handy am Ohr. Die Bildunterschrift lautet: „Ich steige gerade aus dem Zug.“ „Ich steige gerade in den Zug.“
Wer sind diese Menschen? (Ach ja, ich vergaß – das sind wir alle!) Was ist verkehrt daran, einfach aus einem Zug zu steigen oder in einen Zug einzusteigen, ohne dieses unglaublich wichtige Ereignis irgend jemandem mitzuteilen?
Was uns helfen würde
Steigt heute denn niemand mehr einfach auf die altmodische Weise aus einem Flugzeug aus und trifft sich dann mit den Menschen, mit denen er verabredet ist, wobei er das Handy nur zur Sicherheit in der Tasche hat? Wenn wir nicht aufpassen, sind wir bald soweit, dass es heißt: „Ich gehe jetzt auf die Toilette. Ich wasche mir jetzt die Hände.“ Wer muss das wirklich wissen?
Wenn wir das nur zu uns selbst sagten, dann könnte das auch ein achtsames Zur-Kenntnis-Nehmen unserer Erfahrung sein. Es würde uns dann helfen, ein Gewahrsein der verkörperten Erfahrung zu gewinnen, wie sie sich im gegenwärtigen Augenblick entfaltet. Ich steige in den Zug (und bin mir dessen bewusst). Ich steige aus dem Zug (und bin mir dessen bewusst). Ich gehe auf die Toilette (und bin mir dessen bewusst). Ich spüre das Wasser auf meinen Händen (und bin mir dessen bewusst). Ich weiß zu schätzen, dass mir sauberes Wasser zur Verfügung steht, und weiß, wie kostbar es ist. Das ist verkörperte Wachheit. Wenn wir das weiterhin üben, wird uns klar, dass das Personalpronomen gar nicht nötig ist … es geschieht einfach Einsteigen, Aussteigen, Gehen, Fühlen, Wissen, Wissen, Wissen …
In der Innenwelt ein verlässliches Gegengewicht erzeugen
Muss das jemandem erzählt werden? Wer braucht diese Information schon? Sie kann den Augenblick durch Ablenkung, Zerstreuung, Verdinglichung zerstören. Manchmal scheint es uns nicht mehr zu genügen, in und mit unserer Erfahrung allein zu sein – auch wenn es dabei um unser Leben in diesem Augenblick geht. Können wir nicht einmal eine Pause machen? Vielleicht ist diese Pause alles, was wir brauchen, um unsere Verbundenheit mit dem Körper, mit dem Atem, mit der unverfälschten, analogen, nichtdigitalisierten Welt der Natur zu erkennen, mit diesem Augenblick, wie er ist, und mit dem, was wir tatsächlich sind.
Ich will hier keinesfalls für ein technologiefeindliches „zurück zur Natur“ plädieren und die Nützlichkeit unserer neuen Technologie in Abrede stellen. Ich will nur sagen, dass es in dieser Situation, die unser Nervensystem beansprucht, wie das nie zuvor der Fall gewesen ist, besonders wichtig sein könnte, in unserer Innenwelt ein verlässliches Gegengewicht zu erzeugen – etwas, was unser Nervensystem beruhigt und einstimmt und es in den Dienst eines weisen und für uns und andere förderlichen Lebensstil stellt.
Wir können dieses Gegengewicht erzeugen, indem wir unserem Körper, unserem Geist und unserer Erfahrung an der Schnittstelle zwischen Innen und Aussen mehr Achtsamkeit schenken – einschließlich der Momente, in denen wir uns der neuen Technologien bedienen, um mit anderen in Verbindung zu treten … oder in denen der Impuls auftritt, dies zu tun. Ansonsten laufen wir Gefahr, das Leben eines Roboters zu führen, der keine Zeit mehr hat zu kontemplieren, wer denn all das Machen macht, wer irgendwohin gelangt, wo es angenehmer ist, und ob es dort wirklich angenehmer ist.
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In diesem Artikel aus dem Buch „Zur Besinnung kommen“ erinnert uns Jon Kabat-Zinn daran, wie wichtig es ist, inmitten unseres digitalisierten und rasanten Lebens Momente der Achtsamkeit, Muße und Reflexion zu integrieren. Immer wieder Verbindung zu sich selbst, zum Körper, zu all unseren Sinnen, Gefühlen und Gedanken, zur analogen und unverfälschten Natur aufzunehmen, kann uns als Gegengewicht dienen, um unser beanspruchtes Nervensystem zu beruhigen und eine weise Selbstbestimmtheit zu entwickeln.
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